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von Michael Tocha

Der deutschsprachige Südwesten war eine Klosterlandschaft von besonderer Bedeutung, hier gab es rund 300 Niederlassungen. Gemäß monastischer Tradition besaßen alle Bücher – manche nur ein paar Dutzend, andere viele tausend Bände in prunkvollen Bibliothekssälen. Von diesen Klosterbibliotheken ist nicht eine in ihrer historischen Form erhalten geblieben. Bei der Reformation und dreihundert Jahre später bei der Säkularisation wurden die mittelalterlichen Handschriften in die Hof- und Universitätsbibliotheken übernommen, die Inkunabeln („Wiegendrucke“ aus der Frühzeit des Buchdrucks bis 1500) nur in Auswahl, und die Druckwerke des 16. bis 19. Jahrhunderts wurden häufig versteigert, manchmal sogar nach Gewicht an Papiermühlen verramscht. Dieses Schema wiederholte sich noch einmal 1993 bei der Auflösung der F.F. Hofbibliothek in Donaueschingen: Das Haus Fürstenberg hatte in der Säkularisation 18 Klöster übernommen und ihre Bücher lange bewahrt. Nun wurden die Handschriften an das Land Baden-Württemberg verkauft, die Inkunabeln bei Sotheby’s in London versteigert und damit auseinandergerissen und der Forschung entzogen.

Die zerstreuten Büchersammlungen wieder als ganze erkennbar zu machen, Profile einzelner Bibliotheken zu ermitteln und die Überlieferungsleistung der Klöster zu würdigen, war das Ziel einer Tagung, die 2015 in Tübingen stattfand. Nach sechs Jahren ist der Tagungsband 2021 erschienen. Er erschließt das umfangreiche Themenfeld mit einem systematischen Ansatz sowie mit einer Reihe von Fallbeispielen. Peter Rückert untersucht die spätmittelalterliche Schriftkultur der Benediktiner und Zisterzienser vor dem Hintergrund der Entwicklung dieser Orden. Nach einer Krise im 14. Jahrhundert entfaltete die klösterliche Buchkunst parallel zum Buchdruck um 1500 noch einmal eine Blüte. Magda Fischer beschreibt die (nunmehr gedruckten) Buchbestände der Klöster in der Frühen Neuzeit und erörtert, inwieweit sich die Mönchsorden (nicht die Nonnen) über die geistliche Literatur hinaus auch den weltlichen Wissenschaften öffneten und sogar von der Aufklärung beeinflusst waren. Gleichsam nebenbei entstanden in den klösterlichen Skriptorien auch volkssprachliche Bücher, wie Jürgen Wolf ausführt. Mit der zunehmenden Verschriftlichung der deutschen Sprache seit dem Ende des 13. Jahrhunderts erlebte diese Produktion einen Aufschwung, häufig in Frauenklöstern. Auch wenn die Zuordnung solcher Handschriften zu klösterlichen Entstehungsorten besondere Schwierigkeiten bereitet, leisteten die Klöster damit einen wesentlichen Beitrag zur Überlieferung der deutschen Literatur des Mittelalters. Den Inkunabeln aus badischen und pfälzischen Klosterbibliotheken geht Armin Schlechter nach. Christine Sauer zeigt, wie evangelische Reichsstädte ihr monastisches Büchererbe zum Aufbau von Stadtbibliotheken verwendeten. Der Beitrag von Christoph Schmider leitet über zu den Fallbeispielen und schildert, wie die Bistumsleitungen in Konstanz und Freiburg und der badische Staat in der Frage, ob Bestände aus aufgehobenen Klosterbibliotheken zur Bildung des Klerus herangezogen werden könnten, je nach Umständen und beteiligten Personen gegeneinander oder kooperativ handelten.

Die Reihe der Fallbeispiele eröffnet Udo Wennemuth mit einer Darstellung der Geschichte der Stiftsbibliothek Wertheim, in die nach der Reformation die Buchbestände der Kartause Grünau eingefügt wurden. Diese Thematik führt Hermann Ehmer fort, indem er den Schicksalen der Bücher Grünaus und drei weiterer fränkischer Klöster nach der Säkularisation nachgeht. Seine Schilderung, wie auf Auktionen von Sotheby’s versucht wurde, wenigstens einige Stücke für öffentliche Bibliotheken zurückzugewinnen, wirft ein Licht auf den Umgang mit dem klösterlichen Kulturerbe. Der Autor war an solchen Versuchen selbst beteiligt. Exemplarisch beschreibt Christian Herrmann die Provenienzen von Drucken aus Weingarten und der Deutschordenskommende Mergentheim, die in die heutige Württembergische Landesbibliothek gelangten. Die Bibliothek der ostschwäbischen Abtei Irrsee rekonstruiert Helmut Zäh mit großer Detailgenauigkeit. Er verzichtet bewusst darauf, Irrsee als Brennpunkt der Katholischen Aufklärung näher zu charakterisieren – dieses Profil des Klosters wird durch seine in Augsburg erhaltenen Bücherbestände aus dem 18. Jahrhundert eindrücklich sichtbar. Schließlich schildert Karl Schmuki die abenteuerliche Rettung der St. Galler Stiftsbibliothek 1798 – 1804 vor plünderungsbegierigen französischen Revolutionsoffizieren und begehrlichen helvetischen Behörden. Der listenreiche Einsatz von Abt und Mönchen hatte zum Ergebnis, dass die Stiftsbibliothek St. Gallen als einzige unter den behandelten Klosterbibliotheken in ihren Altbeständen geschlossen erhalten werden konnte und wieder ein kulturelles Zentrum mit großer Strahlkraft darstellt.

Von besonderem Interesse für die Schwarzwald-Baar-Region ist der Beitrag von Annika Stello über die Bibliothek des Benediktinerklosters St. Georgen in Villingen. Darin gibt sie einen Abriss der Bibliotheksgeschichte und charakterisiert den erhaltenen Bestand. Über eine mittelalterliche Schreibstube oder Bibliothek in St. Georgen selbst ist nichts bekannt. Die Bibliothek am neuen Standort Villingen brannte 1637 durch die Unachtsamkeit eines Bruders vollständig aus. In der Folge bauten Abt Georg II. Gaisser und seine Nachfolger die Bücherbestände wieder auf. Bei der Aufhebung des Klosters 1806 gelangten 107 Handschriften in die Hofbibliothek in Karlsruhe. Sie stammen zumeist aus Klöstern im Netzwerk St. Georgens, etwa Amtenhausen oder dem Villinger Bickenkloster, ferner Gengenbach, Blaubeuren oder Ettal, und weisen einen bemerkenswert hohen Anteil an deutschsprachigen Texten auf. Von den Druckwerken wurden 1340 nach Karlsruhe geschafft; dort fielen sie 1942 einem Bombenangriff zum Opfer. Die Masse der gedruckten Bücher, über 10.000, ging 1818 an die Universitätsbibliothek Freiburg, wo sie in den Bestand eingeordnet wurden und daher systematisch nicht mehr auffindbar sind. Eine Beschreibung des geistlichen und geistigen Profils St. Georgens im 17. und 18. Jahrhundert aufgrund seiner Bücherbestände steht damit vor kaum überwindbaren Schwierigkeiten. Die Handschriften aus Villingen werden seit 2019 in einem groß angelegten Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft tiefenerschlossen und von der Badischen Landesbibliothek digitalisiert.

Durchgängig thematisieren die einzelnen Beiträge methodische Fragen: Quellen für die Rekonstruktion können die erhaltenen Bestände selbst sein, Kataloge sind von herausragender Bedeutung, der Provenienz zahlreiche Einzelwerke wird nachgegangen. Hier wird deutlich, dass sich der Band in allererster Linie an die Fachwelt wendet. Gleichwohl vermittelt er auch dem historisch interessierten Laien eine Vorstellung von der kulturellen Bedeutung der Klosterbibliotheken und dem radikalen Umgang mit ihnen in Zeiten des Umbruchs.


Armin Schlechter (Hg.): Gesammelt – zerstreut – bewahrt? Klosterbibliotheken im deutschsprachigen SüdwestenVeröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg: Reihe B, Forschungen Bd. 226
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2021. , 315 Seiten EUR 28.00.

Michael Tocha

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