von Wolf-Ingo Seidelmann
Die auf akribischen Archivrecherchen basierende Studie verbindet südwestdeutsche Unternehmens-, Wirtschafts-, Regional-, Familien- und Sozialgeschichte auf lesenswerte Weise. Sie erstreckt sich von der spätmittelalterlichen Aufnahme der Produktion und des Vertriebs von Glas über die Bildung von fünf regional spezialisierten, genossenschaftlich organisierten Absatzgesellschaften während des 18. Jahrhunderts bis hin zu in deren Fortführung als privatisierte, lokale Handelshäuser ab dem späten 19. Jahrhundert. Anlass der Publikation war das 2023 begangene 300jährige Jubiläum der Stuttgarter Handelsfirma Tritschler „als einziger Traditionshalterin der einst weit verzweigten fünf Schwarzwälder Compagnien“ (S. 442). Als studierter Ökonom, Historiker und Professor für Betriebswirtschaftslehre ist der Verfasser für diese wissenschaftliche Herausforderung bestens gerüstet. In seiner Herkunft als Nachfahre der Unternehmerfamilie Tritschler dürfte ein wesentlicher Teil seiner Motivation zur Aufnahme dieses interessanten Forschungsprojekts zu suchen sein.
Die Untersuchung widmet sich der wirtschafts- und regionalhistorisch bedeutsamen Frage, „wie in einer naturräumlich begünstigten Schwarzwald-Region eine Hüttenindustrie entstehen und in deren Folge sich ein Handelszweig etablieren konnte, der bald die kleinräumigen, bäuerlichen Verhältnisse überwunden hat und sich in regionale, dann überregionale Organisationsformen und Märkte weiterentwickelt hat“ (S. 13). Dazu wählt Tritschler ein Forschungsdesign aus zwei sich ergänzenden Ansätzen, und zwar einen (1.) materiellen, in dem die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen Glasproduktion, Logistik und Vertrieb analysiert werden sowie einen (2.) personellen Ansatz, der „zwischen dem Personal der produzierenden Glashütten, den als Händler auftretenden Glasträgern und den Fuhrleuten sowie den Händlerfamilien an den Handelsplätzen Kontinuitätslinien zu erkennen und zu dokumentieren versucht“ (S. 17). Den Motiven der frühen Gründer von Glashüttensiedlungen spürt Tritschler anhand eines sozialpsychologischen Modells (Maslowsche Bedürfnishierarchie) nach (S. 21-37); es folgt die Beschreibung der Schwarzwälder Hüttenstandorte (S. 37-76) und deren Betriebsorganisation (S. 77-88). Den größten Teil der Monografie nimmt die in Perioden unterteilte Entwicklungsgeschichte des Glashandels und der ihn betreibenden Familien ab 1670 bis zur Gegenwart ein. Dabei werden die die örtlichen Gegebenheiten an mehr als zwei Dutzend Handelsplätzen in württembergischen Städten akribisch untersucht und dargestellt. Eine wertvolle Hilfe für den wirtschaftshistorischen Laien leisten kurze Einführungen in die jeweils herrschenden wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der verschiedenen Zeitabschnitte. Die wichtigste Erkenntnisquelle für den Verfasser stellte das Stuttgarter Firmenarchiv von Tritschler & Cie dar. Da zahlreiche kommunale Unterlagen in Stadtbränden verlorengingen, lieferte es einzigartige Aufschlüsse.
Bei allem lobenswerten Detailreichtum vermisst der Leser jedoch ein aussagekräftiges Resümee, das die in den Anfangskapiteln formulierten Fragestellungen aufgreift, die gewonnenen Ergebnisse bündelt und sie in die aktuelle Forschungsdiskussion über die Themen Entwicklung der Industrialisierung und des Unternehmertums im Südwesten abschließend einordnet und bewertet. Das lediglich eine einzige Seite umfassende Kapitel „Zusammenfassung und Ausblick“ (S. 442) wird dieser Forderung nicht gerecht. Eine Vielzahl von Illustrationen (zeitgenössische Gemälde und Fotos, Karten und Tabellen) tragen zur Verständlichkeit des ansprechend formulierten Textes bei. Das Werk greift über den Rahmen einer Firmenfestschrift weit hinaus und leistet einen wertvollen Beitrag zur Erforschung einer Branche, deren Entwicklung im südwestdeutschen Raum nur selten im Fokus wirtschaftshistorischer und betriebswirtschaftlicher Erörterungen stand.
512 Seiten mit 279 Abbildungen, 40 Euro, Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2023.
Wolf-Ingo Seidelmann
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