von Hans Keusen
Das 500. Todesjahr Johannes Reuchlins war Anlass für eine Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart in Kooperation mit der Württembergischen Landesbibliothek im Jahr 1922 über Leben und Wirken des bedeutenden Humanisten und württembergischen Diplomaten. Das vorliegende kleine Begleitbuch zu dieser Ausstellung gliedert sich in der ersten Hälfte in fünf Beiträgen über Reuchlins Wirken und enthält sich im anschließenden Ausstellungskatalog wichtige Dokumente, Briefe und Buchauszüge. Diese optisch sehr ansprechenden Urkunden bleiben aber für den Laien weitgehend unzugänglich, denn sie sind in der damaligen Gelehrtensprache Latein verfasst und die fünfhundertjährige Schrift dürfte nur für Fachleute entzifferbar sein.
Reuchlins Gelehrsamkeit und Toleranz waren europaweit bekannt, und seine Italienreisen erschlossen ihm auch vielfältige persönliche Kontakte zu den führenden italienischen Humanistenkreisen vor allem in Florenz. Und schließlich war er ein begnadeter Autor, dem wir tiefschürfende Bücher zum Humanismus verdanken.
Die ersten beiden Beiträge des Bändchens informieren ausführlich über das Leben des Juristen und Humanisten, das sich in drei Zeitabschnitte unterteilen lässt:
1. Ausbildung: Geboren 1455 in Pforzheim als Sohn eines Klosterverwalters, Besuch der renommierten Pforzheimer Lateinschule, ab 1470 bis 1481 Studium der Rechte in Freiburg, Basel, Paris, Orleans und Poitiers. Diese agile Mobilität des Studenten war allerdings im universitären Milieu des 15. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Ende 1481 Immatrikulation an der erst 1477 gegründeten Universität Tübingen.
2. Im Dienste Württembergs: Seine juristische Qualifikation und Eloquenz als redegewandter Lateinkundiger brachten ihn 1482 an den Württemberger Hof in Stuttgart von Graf Eberhard im Bart, dem er als einer seiner engsten Berater bis zu dessen Tod 1496 diente. Der höfische Dienst war mit diplomatischen Reisen verbunden, die ihn zweimal im württembergischen, einmal im kurpfälzischen pfälzischen Auftrag nach Italien führten. Außerdem ging es 1486 zum Frankfurter Reichstag zur Wahl und Königskrönung Maximilians I. im Dom zu Aachen. (Seinem Bericht dieser Ereignisse an den Grafen Eberhard 1492 ist auch der Buchtitel entnommen: „Ich kan yetzo nit mee …“ schrieb er seinem Herrn, als er seine ausführlichen Schilderungen der politischen Ereignisse erst einmal unterbrechen musste.) Außerdem reiste er an den Kaiserlichen Hof nach Linz.
3. Spätphase: Nach dem Tode Eberhards 1496 floh Reuchlin aus Furcht vor dessen unberechenbaren Nachfolger Eberhard II. für zwei Jahre an den pfälzischen Hof nach Heidelberg. Nach dessen Absetzung kehrte er 1499 nach Stuttgart zurück. Von 1502 bis 1513 war er ein hochangesehener Richter am in Tübingen tagenden Bundesgericht des Schwäbischen Bundes, wo er als überterritorialer Vertreter der Fürsten fungierte. Daneben betrieb er intensive humanistische Studien, lehrte an der Tübinger Universität Griechisch und vor allem Hebraistik, als deren Begründer Reuchlin im christlichen Europa gilt – eine bedeutende und mutige Leistung im damaligen Europa, das von allgemeinem Judenhass geprägt war. In diesem Zusammenhang verfasste er ausführliche juristische Gutachten zum sogenannten „Judenbücherstreit“. Es trug ihm selbst drei Ketzerprozesse ein, dass er sich gegen die damals vorherrschende Forderung wandte, man solle die alten hebräischen Schriften als ketzerisch verbrennen. Schließlich sei das Alte Testament ja ursprünglich auf Hebräisch verfasst. Reuchlin starb 1522 als eine Figur von internationalem Format.
Ein von Wolfgang Mährle verfasster Beitrag mit dem Titel „In der Herzkammer der Renaissance – J. Reuchlins Reisen nach Italien“ widmet sich Reuchlins Bildungserlebnissen und Begegnungen u. a. in Rom, Florenz und Venedig. Auf seinen monatelangen Aufenthalten hatte er sich die altgriechische und hebräische Sprache angeeignet, als Humanist war es ihm wichtig, alte Schriften. Beispielweise den Tanach oder die griechischen Philosophen im Original und nicht nur in einer Übersetzung zu lesen. Hier kaufte und bestellte er so viele Bücher zum Aufbau seiner Gelehrtenbibliothek, dass er sie teilweise vom Handelshaus Fugger nach Deutschland transportieren lassen musste.
Der folgende Beitrag „J. Reuchlin und seine Freunde im Heilbad“ ist im Vergleich zu den bisher besprochenen Beiträgen deutlich weniger informativ: Die Mitglieder des örtlichen Humanisten-Freundeskreises aus Stuttgart und Heidelberg werden vorgestellt und ihre Theorien teilweise erläutert. Mit den Freunden suchte Reuchlin körperliche Erholung und geistige Anregung in den nahen Heilbädern Bad Liebenzell, Wildbad und Baden-Baden, wie dies auch die höfische Gesellschaft zu tun pflegte.
Der letzte Beitrag vor dem Katalog über „Reuchlin als Gelehrter im Spiegel seiner Bücher“ von Christian Herrmann schildert, wie aus der Begegnung mit der Philosophie in Florenz die philosophisch-theologischen Hauptwerke „de verbo mirifico“ (das wundertätige Wort, 1494) und „de arte cabbalistica“ (über die kabbalistische Kunst, 1506) entstanden. Neben diesen Schriften gab Reuchlin Unterricht in griechischer und hebräischer Sprache und übersetzte griechische Klassiker ins Lateinische, um sie dadurch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Er grenzte sich vom spekulativ-disputierenden Verfahren der Scholastik ab und lobte an den griechischen Pythagoreern wie an der jüdischen Kabbala den kontemplativen Erkenntnisgewinn.
Leider kommt in dem sonst sehr informativen Begleitband zu der Ausstellung der bereits erwähnte „Judenbücherstreit“, der Reuchlin in ganz Europa bekannt gemacht hat und über zehn Jahre dauerte, zu kurz. Immerhin beginnt mit Reuchlin eine neue Ära der christlichen Bibelexegese auf der Basis des hebräischen Urtextes. Wenige Jahre später sollte sich Martin Luther bei seiner bahnbrechenden Bibelübersetzung aus dem Hebräischen und Griechischen ins Deutsche auf dieses Prinzip Reuchlins stützen.
Luther aber entwickelte sich im Gegensatz zu Reuchlin zum fanatischen Antisemiten, er griff eine Tradition auf und verstärkte sie, was Jahrhunderte später zur Katastrophe der völligen Entrechtung der Juden und zum Holocaust führen sollte. Reuchlin dagegen stand für einen Humanismus, der später zur Aufklärung führen sollte. Hätte sich sein Denken durchgesetzt, wären der Menschheit – bis in die jüngste Gegenwart – viele Gräuel erspart geblieben.
Auf diesem Hintergrund lohnt es sich allemal, dieses kleine informative Buch zur Hand zu nehmen.
Erwin Frauenknecht – Reuchlin (Keusen) rwin Frauenknecht:„Ich kan yetzo nit mee …“. Johannes Reuchlin unterwegs im Dienst Württembergs
Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2022 122 Seiten mit zahlr. Abb. • 12,00 Euro
Hans Keusen
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