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Jochen Schultheiß: Die Glockengießer aus Villingen. Die Geschichte der Villinger Gießhütte von ihrer Gründung um 1580 bis zu ihrem Ende 1951. 341 Seiten, 34,80 Euro. Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur 2024.

Wer am Morgen eines hohen Feiertages in Villingen unterwegs ist, wird fast überwältigt von dem Glockengeläut, das vom Turm des Münsters bis weit in die Täler hinein klingt. Die größte der Villinger Glocken wiegt 5,4 Tonnen, klingt in As und ist nur etwas kleiner als die einen Halbton tiefer, auf G gestimmte große Glocke des Freiburger Münsters. Keine der Villinger Münsterglocken wurde vor Ort produziert. Nur für das 2006 installierte Glockenspiel hat man zu den 45 neuen Klangkörpern eine 1909 in und für Villingen produzierte kleine Glocke aufgehängt.  

Die sich über fast vier Jahrhunderte erstreckende Villinger Glockengießertradition ist also klanglich, zumindest in der Hauptkirche, kaum mehr zu fassen. Im Anhang zu der von Jochen Schultheiß vorgelegten Firmengeschichte lässt sich das leicht erkennen. Dort erfährt man auch, dass eine 1660 in Villingen gefertigte Glocke noch heute im Südturm des Villinger Münsters als Ausstellungstück steht.

Wegen den Zwangsabgaben in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, bei denen auch Glocken des Villinger Münsters eingeschmolzen wurden, sind die meisten der heute noch läutenden Grüninger-Glocken zwischen 1948 und 1951 hergestellt worden, als die Produktion nach Straß bei Neu-Ulm verlegt wurde.

Seit etwa 1570 wurden kleine Glocken auf dem Gelände des heutigen Münsterzentrums hergestellt. Größere Instrumente, etwa eine 1600 kg schwere und bis heute in Riedlingen an der Donau erklingende Glocke, wurden damals, so vermutet Schultheiß, nicht über den weiten Weg transportiert, sondern vor Ort hergestellt. Eine Glocke aus den frühen Jahren klingt noch in der Kapelle der heutigen St.-Ursula-Schule. 

Die Blüte der Benediktinerklöster im 18. Jahrhundert führte zu großen Aufträgen. Für Villingen entstanden 1767 sieben Glocken, für St. Blasien im Jahr 1772 ebenfalls sieben und 1781 noch einmal neun größere. Für diesen zweiten Auftrag wurde in St. Blasien eine Gießhütte errichtet. Dort entstand die mit über sechs Tonnen wohl schweren Glocke der langen Firmengeschichte. Sie war verziert mit einem Konterfei des Fürstabts Martin Gerbert und maß etwa 2 Meter in der Höhe und im unteren Durchmesser. 

Im frühen 19. Jahrhundert bediente sich der badische Herrscher Karl Friedrich bei der Ausstattung neuer Kirchen in der Residenz Karlsruhe mit Kunstschätzen aus aufgelösten Benediktinerklöstern. Aus St. Blasien kamen Glocken sowie die dort abgebaute Orgel von Johann Andreas Silbermann in die 1908 gebaute katholische Kirche St. Stephan. Und in de 1807 gebaute evangelische Stadtkirche kamen die Silbermannorgel und die Glocken aus Villingen, wobei die größte der St. Blasier Glocken aus dem ursprünglichen Geläut herausgelöst und in die evangelische Kirche gehängt wurde. Vermutlich sollte so der tiefste Ton den Vorrang der traditionell lutherisch-badischen gegenüber der römisch-katholischen Tradition klanglich unterstreichen. Das Badische Finanzministerium hatte empfohlen, dass die „Beaugenscheinigung“ dieser Kunstschätze, „besonders in Villingen, ohne dadurch Aufsehen zu erregen, vorzunehmen“ sei. Von diesen nach Karlsruhe verbrachten Glocken hat sich nur eine erhalten. 

Doch in der Karlsruher Kirche St. Bernhard befindet sich noch heute das größte erhalten Gesamtgeläut der Grüningers: Die 1902 gelieferten sieben Glocken wurden während des Zweiten Weltkrieges abgebaut und nach Hamburg gebracht, konnten dort aber nicht mehr eingeschmolzen und zu Waffen weiterverarbeitet werden, sondern wurden nach dem Krieg zurückgebracht und am ursprünglichen Standort wieder aufgehängt. 

Im Jahr 1909 erhielt das damals frisch renovierte Villinger Münster einen neuen Satz von sieben Glocken. Die teilweise sehr alten, ebenfalls sieben Glocken waren zum großen Teil von den Grüningers gefertigt worden. Ihre Namen Frauenglocke, Salveglocke, Zwölfuhrglocke, Totenglocke, Ablassglocke, Vesperglocke verwiesen auf ihre Signalfunktionen. Und die die 1602 gegossene ‚Große Glocke‘ „hat bei allen Sturm- und Drangzeiten der Belagerungen der Stadt Villingen die Bürgerschaft zur siegreichen Abwehr des Feindes aufgerufen“ wie es ein Spendenaufruf aus dem Jahr 1908 vermerkt (Wegen mangelnder Spenden wurde auch diese für das neue Geläut eingeschmolzen). Die Sprache der Glocken hatte seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung verloren und stattdessen rückte der Zusammenklang des gesamten Geläuts in den Fokus. Ein Gutachten von 1888 beklagte „ein Zusammenfinden von Tönen, welches weder auf ein harmonisches noch melodisches Geläut Anspruch haben könne“ und 1897 wurde das Geläut als in „musikalischer Hinsicht […] ungeordnet, technisch und künstlerisch wenig wertvoll“ beschrieben. Also wurden die alten Glocken abgenommen und eingeschmolzen und gingen in das neue Geläutet ein. Nur die kleine Vesperglocke hat sich im Franziskanermuseum erhalten.

Die neuen Glocken von 1909 klangen pentatonisch über den Grundtönen As des’ es’ f’ as’ b’ des’’ und der Bericht des Freiburger Domkapellmeisters nannte „die Wirkung des ganzen Geläuts eine wohltuende und hoch befriedigende“. Von diesen, 1942 eingezogenen Villingen Glocken kam nach dem Krieg keine zurück.

Die wohl kurzlebigsten Grüningerglocken wurden 1939 nach Radolfzell geliefert, aber bereits 1942 für Kriegszwecke wieder entfernt. Die weitesten Reisen von Grüningerglocken gingen nach Mexiko, wo zwei Söhne des im 19. Jahrhundert ausgewanderten Uhrmachers Tritschler aus Schwärzenbach kirchliche Karrieren als Erzbischöfe von Yucatan und Monterrey machten. 

Der Niedergang der Firma Grüninger begann 1938 mit dem Verkauf des damals im Golden Bühl befindlichen Betriebsgeländes an die Singener Aluminiumwerke. Schultheiss macht ohne Nennung einer Quelle „staatlichen Druck“ für diesen Verkauf verantwortlich. Nachdem der letzte Villinger Glockengießer Franz Josef Benjamin Grüninger aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, bemühte er sich, das Gelände zurückzukaufen oder einen anderen Platz in Villingen zu finden, was aber kurzfristig nicht gelang. In Straß bei Neu-Ulm fand er auf dem Gelände eines ehemaligen und nur teilweise demontierten Munitionswerkes einen passenden Ort und begann dort wieder mit der Herstellung von Glocken. Viele der zwischen 1948 bis 1951 dort gegossenen Glocken galten wegen der verwendeten Weißbronze-Legierung als weniger haltbar und klanglich minderwertig und wurden deshalb später ersetzt, so etwa auch zwei 1948 für die evangelischen Lorenzkirche in St. Georgen angeschafften Weißbronzeglocken, die – so ein Gutachter, in „tonlicher Beziehung […] gegenüber den drei Bronzeglocken“ abfallen: „Ihr Klang ist matt und dumpf, ohne den notwendigen Nachhall und fügt sich nur als Ton, aber nicht als gleichwertiger Klangfaktor dem gesamte Geläute ein.“ 

Als Grund für das Ende der Firma durch Konkurs im Jahr 1951 nennt Schultheiss vor allem die hohen Investitionen für neue Anlagen, auf denen Grüninger Gussteile für die Industrie produzieren und dabei nicht nur Bronze, sondern auch Eisen und Temperguss verarbeiten wollte. Die Produktion konnte zwar 1951 anlaufen, aber Grüninger hatte dafür nicht nur hohe Kredite aufgenommen, sondern auch bereits erhalten Anzahlungen für neue Glocken verwendet. Durch den Konkurs verloren 20 Kirchengemeinden zum Teil hohe Summen, allein für die Kirchengemeinde Vöhrenbach waren es 39.000 Mark. Grüninger wurde wegen Unterschlagung, Untreue und Betrug zu 21 Monaten Gefängnis und 1.000 Mark Strafe verurteilt. Ihm wurde zudem vorgeworfen, mehr als 7 Tonnen Gussbruch von im Krieg zerstörten Glocken, die ihm von den Bistümern Freiburg und Rottenburg überlassen worden waren, für anderen Zwecke verwendet zu haben. Zukünftige Forschungen könnten vielleicht erklären, warum der anerkannt gute Glockengießer Franz Joseph Benjamin Grüninger in einer Boomphase für seine Gewerbe sich nicht auf die vergleichsweise wenig Kapital erfordernde Herstellung von Glocken beschränkte, sondern sich hoch verschuldete um einen neuen, ihm fremden, und kapitalintensiven Geschäftszweig zu erschließen. 

Das Buch von Joachim Schultheiß ist keine Technikgeschichte der Glockenproduktion und geht nicht auf die kulturgeschichtliche Bedeutung von Glocken und Glockengeläuten ein. Für seine umfassende Firmengeschichte der Villinger Glockengießer hat der Autor aber eine Fülle von Fotos und Akten gesichtet und ausgewertet. Der ca. 100 Seiten umfassende geschichtliche Teil wird durch 200 Seiten mit abgedruckten Zeitungsausschnitten, Aktenstücken und Tabellen ergänzt. Die an Villinger Stadtgeschichte interessierten Leser können die Standorte und Umzüge der Produktionsstätten nachverfolgen und erfahren hier, dass auch das Stahlskelett des 1888 eröffneten Aussichtsturms „Auf der Wanne“ von Grüninger hergestellt wurde. 

Klanglich sind heute in Villingen vor allem einige späte, in Straß gegossene Grüningerglocken präsent. Eine von 1949 klingt in der evangelischen Johanneskirche und zwei im Jahr 1950 für Steinbach bei Baden-Baden gefertigte Glocken fanden ihren Weg in die 1960 erbaute St.-Konrads-Kirche.

Friedemann Kawohl

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