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von Michael Raub

Der – historisch gesehen – kleinräumige und politisch zersplitterte südwestdeutsche Raum, der berühmte „Flickenteppich“, hat in den letzten rund 120 Jahren einen kontinuierlichen politi­schen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Vereinheitlichungsprozess durchlebt, der vor allem auf kulturellem Gebiet – zum Glück! – immer noch nicht ganz abgeschlossen ist, denn es gibt nach wie vor unterschiedliche und lebendige, teils auch neu hinzugekommene Identi­täten.

Einen wichtigen Meilenstein in diesem Prozess stellt zweifellos der Zusammenschluss dreier historisch voneinander unabhängiger Vorgängerländer zum Bundesland Baden-Württemberg vor 70 Jahren dar. Das primär politische Ereignis hat dann stark auf alle anderen Bereiche des Zusam­menlebens abgestrahlt und sie geprägt. Dabei war anfangs keineswegs selbstver­ständlich, dass das neue Gebilde sich zu einem „Musterländle“ entwickeln würde.

Zum 70. Gründungsjubiläum des Südweststaates hat die Landeszentrale für Politische Bildung einen großformatigen Band herausgebracht. Wie die fünf Autoren – allesamt renommierte Fachleute – eingangs hervorheben, intendieren sie keine der üblichen systematischen Dar­stellungen der Gründungsgeschichte und der späteren großen Entwicklungslinien. Sie wäh­len stattdessen den anderen Weg: Die Präsentation von zahllosen Fotos, versehen mit kurzen und erläuternden Begleittexten, rollt die Landesgeschichte in ihrer ganzen Vielfalt auf; sie stellen dabei vor allem „ganz normale“ Menschen möglichst in Alltagssituationen in den Mittelpunkt, Prominenz aus Politik, Wirtschaft, Sport oder Kunst bleibt die Ausnahme.

Das Bildmaterial ist aus zahllosen Archiven und Museen in mühevoller Kleinarbeit zusam­mengetragen. Neben den teilweise doppelseitigen Fotos bis hin zum DIN A 3-Format, zunächst in Schwarz-Weiß, dann in Farbe, enthält das Buch zahlreiche QR-Codes, mit denen sich historische Filmclips meist aus der ARD-Mediathek abrufen lassen – hier sind Aufmachung und Sprache etwa bei Sportereignissen oft ebenso interes­sant wie die Inhalte selbst: In ihrer für uns hölzern anmutenden Machart wirken die älteren Sendungen heute wie aus einer anderen Welt. Die Clips reichen al­lerdings nur bis in die 90er Jahre.

Das Bild-, Text- und Tonmaterial ist nach Jahreszahlen chronologisch aneinandergereiht und umfasst eine Fülle von Themen, von denen hier nur einige genannt seien: Die Not und Herausforderungen in der Nachkriegszeit, Wiederbewaffnung und Einführung der Wehrpflicht, Ostermärsche, Wirtschaftswunder und Konsumgesellschaft, Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft, Infrastruktur- und Bauprojekte, Stadtkultur, Flurbereinigung, Gebietsreform, Polio-Impfung, „Gastarbeiter“, Leistungs-, Breiten- und Trendsport, Traditionspflege, Heimatbewusstsein, Volksfeste, Festivals, Unterhaltungs-, Freizeit-, Jugend- und Alternativkultur, Werbung, literarisches Leben, Reisewelle, aber auch Gewalt und Missbrauch in Kinderheimen, Erinnerungskultur, Auschwitz- und andere Kriegsverbrecherprozesse, Staatsbesuche, Arbeitskämpfe, , Boatpeople und Flüchtlingswelle 2015, Förderung von Behinderten, Waldsterben, Häuserkämpfe, Ökologie-, Anti-Atom‑, Friedens‑ und Frauenbewegung, Aufstieg der „Grünen“, Euro-Einführung, Förderung alleinerziehender Frauen, Aufstieg von Frauen in Führungspositionen, Akzeptanz und rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben, Umweltprobleme und -katastrophen, Integration von Heimatvertriebenen, Migranten und Flüchtlingen, Naturschutz, Bildung (knapp), Nichtraucherschutz, archäologische Funde und historisches Bewusstsein, Landesausstellungen, religiöses Leben sowie interkonfessioneller und interreligiöser Dialog, Notstandsgesetze, 68‑er Bewegung, RAF-Terrorismus, Unglücke und Katastrophen, Ölkrise und autofreie Sonntage, Hausbesetzungen, politischer Extremismus von rechts und links, Stuttgart 21-Proteste, Agenda 2010, Euro-Einführung, Amokläufe, Fremdenfeindlichkeit und Ras­sismus sowie Gegenbewegungen, BSE-Rinderseuche, Covid-19-Pandemie, Energiewende, Lockdown und Proteste, Kopf­tuchverbot für Lehrerinnen, bis hin zu aktuellen Themen wie Digi­talisierung, Diversität oder Klimaproteste.

Wie bei der Be­trachtung eines pointilistischen Gemäldes muss man innerlich zurücktreten und im Geiste das Ganze sehen und strukturieren, da­mit sich der enorme politische, ökonomische, soziale und kulturelle Wandel erschließt. Nur ein Beispiel: Wer hätte 1952, in einer Zeit, in der die Eliten fast ausschließlich „schwäbi­schen“ oder „badischen“ oder „hohenzollerschen“ Männern aus alteingesessenen Familien angehörten, sich träumen lassen, dass 70 Jahre später das Geleitwort zu einem Jubiläums­band wie dem vorliegenden ganz selbstverständlich von einer Landtagspräsidentin namens Muhterem Arras verfasst werden könnte?

Neben dem enormen Wandel auf vielen Gebieten werden aber auch Kontinuitäten deutlich, die oft auf alte Traditionen zurückblicken. Dafür stehen ein vielfältiges Brauchtum wie die Fasnet oder ein reges Vereinsleben, das nach wie vor auf ausgeprägten regionalen und lokalen Identitäten fußt. Muhterem Arras spricht hier von „Heimat in Vielfalt“.

Hilfreich sind im Anhang ein detailliertes Ortsregister, eine Übersichtskarte sowie Angaben zur Verwaltungsstruktur und Einwohnerzahlen.

Phillip Gassert / Maike Hausen / Sabine Holtz / Verena Schweizer / Reinhold Weber (

BA-Wü 1952-2022 (Raub)Hrsg. von der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg):
Menschen. Geschichten. Ereignisse Baden-Württemberg in Bildern 1952-2022.
1. Aufl. Stuttgart 1922 • 247 Seiten, durchgehend bebildert • 18 Euro

Michael Raub

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