Roland Wolf: „Eine Zeit zwischen zwei Weltzeiten“. Die Hungerkrise der Nachkriegszeit in Württemberg-Hohenzollern 1945–1948. Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, Band 235, Ostfildern: Jan Thorbecke, 28,00 €.
Die vorliegende Arbeit wurde 2022 an der Abteilung für Landesgeschichte (Professorin Sabine Holtz) in Stuttgart als Dissertation angenommen. In der einleitenden Methodendiskussion arbeitet der Verfasser den Begriff der „Vulnerabilität“ als zentrale Forschungskategorie heraus. Gemeint ist damit zum einen die Anfälligkeit des Ernährungssystems für Störungen, zum anderen die Verunsicherung des Lebensgefühls der Betroffenen, aus der Strategien der Bewältigung und eine allgemeine Neuorientierung erwachsen können. Diesem zweifachen Ansatz entsprechend ist die Arbeit in zwei Hauptkapitel gegliedert, die das Thema zunächst auf der materiellen und dann der kulturell-mentalen Ebene erschließen. Die Verbindung sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Methoden mit Verfahren der Neuen Kulturgeschichte gehört zu den Stärken der Arbeit.
Die Hungerkrise ist zeitlich eingegrenzt auf ihr eruptives Hervortreten bei Kriegsende 1945 und ihre Überwindung durch die Währungsreform 1948. Genese und Verlauf werden deutlich unterschieden. Die Ursachen werden über Krieg und Diktatur hinaus zurückverfolgt, dabei kommen auch globalgeschichtliche Perspektiven zur Sprache. Die akute Krise wird mit einer Fülle von Daten und Fakten belegt, von der Anzahl der Hühner im Untersuchungsgebiet über den Saatgutmangel und das Wetter 1946/47 bis zur Entnahmepolitik der französischen Besatzungsmacht. Der verwendete Krisenbegriff ist komplex, der Hunger wird mit allen Bereichen der zeitgenössischen Entwicklung verknüpft. Zwar wird die Hungerkrise auf diese Weise als Grundimpuls stets mit gedacht – und gerät dennoch gelegentlich aus dem Blick: die Studie liest sich dann stellenweise als Abhandlung über den Kampf gegen die Demontagen, über Strukturen und Ziele der französischen Besatzungsherrschaft oder die Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne und die Bewältigung des Nationalsozialismus.
Die Verknüpfung von Hunger und Transformation spitzt sich auf die These zu, die Erfahrung von Vulnerabilität habe den Neuaufbau und die Akzeptanz einer demokratischen und liberalen Ordnung, die das erneute Auftreten einer Hungerkrise verhindern würde, wesentlich befördert. Hier allerdings ist der Punkt erreicht, an dem die Untersuchung eines eng umrissenen Gebiets wie Württemberg-Hohenzollern an Grenzen stößt, denn Hunger gab es überall, und Lösungen hatte auch ein Regime wie das in der Sowjetzone anzubieten. Dass die Überwindung der Not entscheidend zur Festigung der neuen demokratische Ordnung Westdeutschlands beigetragen hat, ist gesichert. Welches Gewicht die Erfahrung von Mangel und Unsicherheit jedoch in der Gemengelage mit anderen Faktoren – den Interessen der Alliierten, dem Ost-West-Gegensatz und, bei aller fortbestehenden Anhänglichkeit an den Nationalsozialismus, auch einem Bedürfnis nach freiheitlicheren Verhältnissen – hatten, kann letztlich nur in größerem Maßstab ermessen werden. Die vorliegende Studie liefert für eine solche übergeordnete Fragestellung einen wesentlichen Baustein.
Die Debatten, die das Buch auslöst, müssen ohne den Autor stattfinden, er verstarb 2024. Als Fachleiter in Tübingen, Schulbuchautor, Vorsitzender des Geschichtslehrerverbands, einer Lehrplankommission sowie des Reutlinger Geschichtsvereins gehörte Roland Wolf zu den maßgebenden Geschichtsdidaktikern in Baden-Württemberg. Die Promotion war sein Projekt für den Ruhestand. Schon von Krankheit gezeichnet, konnte er die Vollendung seines Vorhabens noch erleben. Ein Sprichwort besagt, dass Bücher ihre Schicksale haben – und manchmal ist bereits ihre Entstehung auf bewegende Weise mit den Schicksalen der Menschen verknüpft, die sie hervorbringen.
Michael Tocha
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