Verdrängt, verdeckt, vergessen – St. Georgen im Nationalsozialismus. Ein Projekt von St. Georgener Bürgerinnen und Bürgern in Zusammenarbeit mit der Justus Liebig Universität Gießen, 83 Seiten, 15 Euro.
Im Juli 2021 traf sich erstmals eine Gruppe St. Georgener Bürgerinnen und Bürger mit dem Ziel, die Geschichte des Nationalsozialismus in ihrer Stadt zu erforschen. Daraus ergab sich die Mitarbeit an dem bundesweiten Projekt „Das Dritte Reich und Wir“, in welchem Gemeinden die Geschichte ihres Ortes im Nationalsozialismus selbst aufarbeiten. Projektpartner waren die Justus-Liebig-Universität und der Deutsche Feuerwehrverband. Gefördert wird das Projekt u.a. durch die Bundeszentrale für politische Bildung.
Wichtig war den Projektteilnehmern, den Kontakt zur Bevölkerung herzustellen. Über eineinhalb Jahre, so wird berichtet, wurden Interviews mit Zeitzeugen geführt und mehr als 1000 Exponate (Dokumente, Fotos, Gegenstände) gesammelt. Ergänzt durch zahlreiche Informationstafeln und gegliedert in sechs Abteilungen wurde am 17. März 2023 die geplante Ausstellung eröffnet.
Auf dies Ausstellung stützt sich die jetzt vorliegende 83-seitige Broschüre. Nach einer kurzen Einführung des Projektleiters Clemens Tangerding von der Gießener Universität, in der er seine zunächst vorhandenen Bedenken („es war uns mulmig zumute“) äußerte, diese jedoch durch die gemeinsame Arbeit mit der örtlichen Projektleitung (Gerhard Mengesdorf und Ute Scholz) rasch zerstreut sah.
Das Vorwort von Adolf Ströble (eine gekürzte Version seines Aufsatzes aus der „Festschrift 100 Jahre Stadterhebung Stadt St. Georgen im Schwarzwald“) widmet sich der Frage, „ob St. Georgen eine Hochburg der Nazis [war]“. Diese Annahme bestätigen die Wahlergebnisse von 1932 und 1933 im Vergleich zum Reich und auch zu Villingen. Ausdruck der Gleichschaltung war die Einsetzung eines NS-Bürgermeisters, die Besetzung des Gemeinderats mit Parteigenossen und die Durchsetzung des Führerprinzips in der städtischen Verwaltung.
Der ehemaligen Ausstellungskonzeption folgend, ist auch die Broschüre in sechs Abschnitten gegliedert. „Kapitel 1“ beinhaltet Hinweise auf die Zwangsarbeit zunächst reichsweit (Zahlen, gesetzliche Bestimmungen, verschärfende Maßnahmen im Verlauf des Krieges), dann bezogen auf die Situation in St. Georgen. Genannt und beschrieben werden die Herkunft und Anzahl der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die Arbeitsbedingungen und die von der Zwangsarbeit profitierenden Unternehmen. Einzelne Schicksale werden hervorgehoben.
„Kapitel 2“ setzt sich mit dem sogenannten „Kirchenkampf“ innerhalb der evangelischen Kirche auseinander. Die „Deutschen Christen“, vertreten durch Pfarrer Thieringer, mussten erkennen, dass sich die Mehrheit der Gemeindemitglieder zur „Bekennenden Kirche“ und dessen Vertreter Vikar Willi Ochs hingezogen fühlten. Als dem Vikar sein Gehalt entzogen wurde, sicherten heimlich zusammengetragene Spenden seinen Lebensunterhalt.
In „Kapitel 3“ wird die Bedeutung der SS für St. Georgen dargestellt. Anfang 1937 wurde eine Berufsschule für SS-Angehörige eingerichtet mit dem Ziel, „Soldaten der SS-Verfügungsgruppe den Übergang ins zivile Leben zu erleichtern“. In einem 3-monatigen Kurs sollten die Schüler befähigt werden, sich für eine Stelle in einer der SS unterstehenden Behörde, der Polizei, beim SD oder direkt bei SS-Dienststellen zu bewerben. Eine weitere Einrichtung der SS war ein Erholungsheim, das zwischen den Jahren 1937 bis 1943 bestand. „Gesundheitlich angeschlagene“ SS-Angehörige aller Dienstgrade konnten sich aufgrund eines ärztlichen Attests um einen freien Platz bewerben.
Die Auswirkungen des Krieges – „Kapitel 4“ – zeigten sich für die Einwohner der Stadt auf unterschiedliche Weise. Die zum Kriegsdienst eingezogenen Männer fehlten in den für die Rüstungsindustrie produzierenden Firmen und auf den Bauernhöfen. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sollten sie ersetzen. Beständige Fliegeralarme zwangen zur Flucht in die Schutzbunker und Keller. Fliegerangriffe und Bombenabwürfe ab Oktober 1944 hatten vor allem die Bahnanlagen zum Ziel. Am 20. April 1945 nahmen französische Truppen ohne Widerstand die Stadt ein, wurden jedoch einen Tag später von durchziehenden deutschen Soldaten in schwere Kampfhandlungen verwickelt. Dabei ermordete ein SS-Trupp etwa fünfzig Zwangsarbeiter, die sich schon in Freiheit wähnten.
In einem abschließenden Kapitel wird an das Schicksal von fünfzehn Euthanasieopfern gedacht, ein Thema, über das nicht nur in dieser Stadt lange geschwiegen wurde.
Die Broschüre leistet einen wertvollen Beitrag als Teil der regionalgeschichtlichen Forschungen zur Alltagsgeschichte in der NS-Zeit, die in den letzten Jahren auf immer größeres Interesse stoßen. Durch die Vielfalt der Themen, die Fülle informativer Texte, die eigenes Forschungswissen wiedergeben, der großen Anzahl zeitgenössischer Dokumente (Fotos, Karten, Zeitungsartikel, Archivalien) und die sorgsame graphische Gestaltung dient das schmale Buch nicht nur zur persönlichen Wissenserweiterung, sondern könnte sicherlich als anschauliche Quelle im Geschichtsunterricht verwendet werden.
Die Broschüre ist bei der Buchhandlung Haas, Feinkost Hoppe, in der Geschichtstruhe des Vereins für Heimatgeschichte und im Onlineshop des Theaters im Deutschen Haus erhältlich.
Wolfgang Heitner
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