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GABRIEL BRAEUNER: La peste est partie aux corbeaux. Vivre avec la pandémie au temps
des humanistes. • 78 Seiten • 10 Euro • Médiapop Éditions. Mulhouse 2022

Angeregt durch die Isolation während der Covid-19-Pandemie forschte der elsässische Historiker GABRIEL BRAEUNER, unter anderem ständiger Sekretär der Academie d’Alsace und Präsident der Association des amis de la Bibliothèque humaniste de Sélestat, nach Dokumenten, die über die Pest
im ausgehenden Mittelalter und zur Zeit des Humanismus und der beginnenden Renaissance berichten. Er stellte sich die Frage, wie die Menschen in der Region zwischen Straßburg und Basel in der Zeit vom 14. – bis 16. Jahrhundert auf die damals auch dort grassierende Pest reagierten, und verglich sie mit heutigen Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie. Die Ergebnisse hat er in dem vorliegenden kleinen Band vorgestellt.
Im Jahr 1349 erreichte der „Schwarze Tod“, der bis heute im kollektiven Gedächtnis ganz Europas verankert ist und den BOCACCIO in seinem berühmten „Decamerone“ zum Thema machte, auch das Elsass. Rund 200 Jahre später, etwa um 1540, grassierte die Pest erneut im Elsass und in Basel. Den zeitgenössischen Humanisten dürfte das Werk des griechischen Historikers THUKYDIDES über den Peloponnesischen Krieg bekannt gewesen sein, in dem auch die Epidemie beschrieben wird, die
Athen 430 v. Chr. verwüstete und auch Perikles in den Tod riss. Nach neueren Forschungen handelte es sich bei dieser Epidemie aber nicht um die eigentliche Pest, sondern wohl um eine Typhus-Epidemie.
In einem kurzen, aber informativen Kapitel schildert der Autor die Art der Übertragung der Pest vom Tier auf den Menschen. Erst 1894 entdeckte der Franko-Schweizer ALEXANDER YERSIN das nach ihm benannte Bacterium Yersinia pestis, die verschiedenen Arten der Pest, ihre klinische Symptomatik und die wichtigsten Verlaufsformen.
Schon die Pandemie von 1347 bis 1353 überfiel eine Bevölkerung, die in keiner Weise vorbereitet oder geschützt war. In Colmar erlagen 1541 etwa 3.500 Kranke der Pest, in Basel waren es von 1610 bis 1611 mit 4.000 Menschen über 30 % der Bevölkerung. Die Schätzungen über den Verlust an Menschen schwanken je nach Region und sozialer Stellung zwischen einem Achtel und zwei Dritteln der Bevölkerung.
Außerdem suchte man nach Sündenböcken – und fand sie wie auch sonst in fast ganz Europa in den Juden, die man beschuldigte, die Quellen und Brunnen vergiftet zu haben. Die Chroniken berichten über die Judenpogrome und -vertreibungen, allein in Straßburg sollen 2.000 Juden ermordet worden sein.
Die gelehrten Ärzte waren der Pest gegenüber hilflos, ihr Wissen nützte nichts und niemandem. In ihrer Ohnmacht ließen sie weiterhin zur Ader und verschrieben Salben. Zwar hatten in der Renaissance
Anatomie und Chirurgie einige Fortschritte gemacht, aber diese resultierten nicht aus der Pestmedizin, sondern aus dem Kriegswesen. So konnten die Ärzte nicht hinter das Geheimnis der Pest kommen, schlussendlich mussten sie die Kranken der göttlichen Barmherzigkeit empfehlen, was die Wiederkehr der Seuche am Oberrhein schon im 16. Jahrhundert freilich nicht verhinderte.
Und wie reagierten die Humanisten? Sie flohen an einen sicheren Ort, aber neben der Angst vor einer Ansteckung spielte auch ihre Arbeit für den Ortswechsel eine Rolle. Ihr Studierzimmer war Heiligtum
und Refugium, das man schützte und das einen schützte. Es war notwendig für das Gebet, die Meditation und die Schriftstellerei – und am wichtigsten war es, nicht gestört zu werden. Der Pest aber als hochgradiger Störung galt es zu entkommen. Erasmus von Rotterdam verließ Basel 1529 zum einen zwar wegen der Einführung der Reformation – er war dem alten Glauben treu geblieben – und ging nach Freiburg im Breisgau, aber auch, weil dort (noch) keine Pest herrschte. Sein Mitstreiter Beatus Rhenanus hatte sich bereits 1509 in seine Geburtsstadt Schlettstadt zu seinem Vater zurückgezogen, wo er ideale Bedingungen für seine Arbeit fand. ALBERT BURER berichtete seinem Lehrer Erasmus aus Basel vom vorläufigen Ende der Seuche: „La peste est partie aux corbeaux …“, frei übersetzt: „Die Pest hat sich in Luft aufgelöst.“ – ein Spruch, der dem Buch seinen Titel gegeben hat.
Die „Stubenidealisten“, wie STEFAN ZWEIG die Humanisten später genannt hat, hielten sich an das Motto „CLT“: „Cito, longe, tarde“, was „schnell (fliehen)“, „so weit weg wie möglich“ und „so lange wie
möglich“ dort bleiben, bis die Gefahr vorüber ist, bedeutet. Der Pest und ihrem beherrschenden Ein-
fluss, so zeigen es die überlieferten Quellen, konnte man nicht entgehen. Gelang dies für kurze Zeit, holte sie die Menschen einige Jahre später wieder ein. Sie ließ ein wenig durchatmen, damit man sich wieder aufbauen konnte, aber man wusste, dass sie wiederkommen würde und man ihr nicht
entrinnen konnte.
Dennoch gab es keine Gleichheit vor der Pest, das Schicksal hing wesentlich von den sozialen Bedingungen ab: Die Reichen flohen aus ihren Stadthäusern auf die Anhöhen oder ihre Landhäuser, die Armen mussten in ihren Elendsquartieren bleiben, ihre Mortalität war erheblich höher.

Braeuner verweist darauf, dass sich Menschen in ihrem Wesen seit fünf Jahrhunderten in vielem nicht grundlegend verändert haben, in ihren Reaktionen auf todbringende Pandemien aber doch: Während
wir heute bei der Seuchenbekämpfung auf naturwissenschaftlich-medizinische Forschung vertrauen, blieben auch in der Renaissance von den einfachen Bauern bis zu den hochgebildeten Humanisten alle einem tiefreligiösen Weltbild verhaftet, das oft genug mit dem Aberglauben verschwamm.
Noch nicht von einem naiven Gottesglauben emanzipiert, ließ das geistige Universum nur ein Verständnis der Pest zu: Sie ist eine Strafe Gottes, punktum! Der Mensch ist „unrein und schuldig“, die Pest ist wie die Lepra Strafe und Zorn Gottes infolge menschlicher Sünden.
Das Motto damals hieß: Rette sich, wer kann! Jeder versuchte, soweit er konnte, sich irgendwie zu helfen, isolierte und pflegte sich, wenn er die Mittel dazu hatte. Die Mehrzahl der Humanisten konnte das, aber ihre Mitarbeiter und die einfachen Leute eben nicht. Ihnen blieb nur die Gnade Gottes.
Der Vergleich der Quellen verrät, was in den Zeiten des Humanismus die Besonderheit der Wahrnehmung und der Realität der Pest ausmacht. Es zeigt sich, dass die Mentalität in Spätmittelalter und Renaissance weder derjenigen in der Antike noch derjenigen von heute gleicht.
Wer mehr über damaligen Zivilisationsschock, die ökonomischen, politischen, mentalen, wissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen in ihrer zeitlichen Distanz sowohl zur Antike als auch zum 21. Jahrhundert erfahren möchte und die französische Sprache beherrscht, dem sei Braeuners kleines Buch wärmstens empfohlen. Man erfährt, wie Pandemien in verschiedenen Epochen die oft widersprüchlichen Facetten der menschlichen Natur herauskristallisieren: gleichzeitig Angst und die Heldenhaftigkeit, Mut und Feigheit, Solidarität und Egoismus, Vernunft und Irrationalismus, Reife und Verdummung, Großmut und Kleinlichkeit. Hier zeigen sich Parallelen zu den großartigen Schriften von Thukydides und Boccaccio, die immer wieder zu lesen uns der Autor einlädt.


Hans Keusen

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